Mein Herz ruft deinen Namen by Susanna Tamaro

Mein Herz ruft deinen Namen by Susanna Tamaro

Autor:Susanna Tamaro [Tamaro, Susanna]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783492055093
Google: SobMNAEACAAJ
Herausgeber: Piper Verlag GmbH
veröffentlicht: 2013-03-14T23:00:00+00:00


15

In den ersten Jahren hier oben habe ich in absoluter Einsamkeit gelebt. Wenn ein Wanderer die Absicht zeigte zu rasten, gab ich ihm zu verstehen, dass es nicht erwünscht sei. Den physischen Raum gab es – ein Stockbett in dem Kämmerchen hinter der Küche –, was fehlte, war der Raum in meinem Herzen. Ich war auf dem Weg der Genesung, meine Wunden waren gerade erst vernarbt, eine abrupte Bewegung hätte genügt, um sie wieder aufzureißen. Deshalb musste ich mich still und stumm in meiner schützenden Höhle verkriechen, um wieder zu Kräften zu kommen. Mit der Zeit änderten sich die Dinge, die Stille mit ihrer wundertätigen Kraft weckte allmählich wieder den Wunsch in mir, anderen Menschen zu begegnen.

Wenn jetzt jemand ein paar Tage hier einkehren will, nehme ich ihn gerne auf. Manche mögen meine Lebensart sofort, andere dagegen wünschen sie sich, halten aber nur wenige Stunden aus. Mit von Schlaf und Beunruhigung gezeichneten Augen teilen sie mir mit, plötzliche Verpflichtungen zwängen sie, wieder aufzubrechen.

Natürlich weiß ich, dass ihre einzige wahre Verpflichtung die Angst ist, jenes Gefühl von Unsicherheit und Ungewissheit, durch das sie sich hier in der Einsamkeit plötzlich ihrem eigenen Leben entfremdet fühlen. Plötzlich sehen sie sich, und da sie nicht recht wissen, wer sie sind, fürchten sie sich. Deswegen müssen sie zurückeilen, sich ins spiegelnde Getümmel stürzen, müssen lachen, tanzen, zusammen mit den anderen Lärm machen, das Gespenst auslöschen, das sie mit seinem Blick voller Fragen verfolgt: ›Wer bist du?‹ ›Geh weg! Reiße mich nicht aus der Betäubung, in der ich meine Tage vergeude.‹

In der ersten Zeit unseres gemeinsamen Lebens verwunderte mich eine Gewohnheit von dir, die ich nicht kannte – jeden Morgen nach dem Frühstück zogst du dich ins Schlafzimmer zurück und wolltest dort eine halbe Stunde nicht gestört werden. Anfangs hänselte ich dich: »Bestimmt legst du dich noch einmal hin und schläfst.« Anstatt mir zu antworten, sahst du mich mit einem Lächeln an, das rätselhafter war als das der Mona Lisa.

Dann wurde ich eifersüchtig – wie war es möglich, dass es etwas gab, das du nicht mit mir teilen wolltest, aus welchem Grund musste ich immer an der Schwelle zurückbleiben? Ich versuchte auch, dich mit praktischen Ausreden abzulenken. »Wir sind hiermit oder damit im Verzug … es ist zu unordentlich … Wir sind schon zu spät dran, wie kannst du da noch mehr Zeit vergeuden?«

»Wer sagt dir denn, dass ich sie vergeude?«, antwortetest du unbeirrbar, indem du leise die Tür hinter dir zumachtest.

Nur einmal, bei einer Bergwanderung auf der Maiella, spieltest du kurz darauf an. Wir saßen auf dem Gipfelplateau, Davide war noch nicht geboren, und auf einmal zeigtest du auf das blaue Glitzern des Meeres vor uns, die Wolken am Himmel und die Felsen, die uns umgaben. »Siehst du, wenn man mit dem Ewigen spricht, vergeudet man nie seine Zeit.«

Während ich die Verpflegung aus dem Rucksack holte, ließest du dich mit einem glücklichen Seufzer nach hinten fallen, um mit Blick auf den Himmel eines deiner Lieblingsgedichte zu zitieren:

Ich glaube, ein Grasblatt ist nicht geringer als das



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